Unter der Woche stand Jens Spahn wegen der Maskenaffäre heftig in der Kritik, jetzt erregt er mit einem Vorschlag Aufsehen. Der Unionsfraktionschef fordert einen europäischen Atomwaffen-Schutzschirm und dabei auch eine Führungsrolle Deutschlands. "Ich weiß, welche Abwehrreflexe sich jetzt sofort regen, aber ja: Wir sollten eine Debatte über einen eigenständigen europäischen nuklearen Schutzschirm führen. Und das funktioniert nur mit deutscher Führung", sagte er der "Welt am Sonntag" auf die Frage, ob Deutschland Atommacht werden solle. Was konkret er damit meint, bleibt in dem Interview allerdings unklar. "Die russische Aggression ist eine ganz neue Bedrohungslage", so Spahn. "Europa muss abschreckungsfähig werden", führte er weiter aus.
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Deutschlands bisherige Rolle im nuklearen Schutzschirm der Nato
Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) hatte bereits im Mai angekündigt, mit den europäischen Atommächten Großbritannien und Frankreich Gespräche führen zu wollen über eine gemeinsame atomare Abschreckung - als Ergänzung zum atomaren Schutzschild der USA. Deutschland ist keine Atommacht, stellt aber im Rahmen der sogenannten nuklearen Teilhabe Kampfflugzeuge bereit, die im Verteidigungsfall mit US-Atombomben bestückt werden könnten. Diese Flugzeuge stehen im Bundeswehr-Fliegerhorst bei Büchel in Rheinland-Pfalz.
"Nukleare Teilhabe" ist ein Nato-Konzept aus den 1950er Jahren. Damals, im Kalten Krieg, richtete es sich vor allem gegen die Sowjetunion. Mit dem Konzept demonstrierten die USA ihre Bereitschaft, ihre atomar nicht bewaffneten Nato-Partner in Europa mit den eigenen Atomwaffen zu schützen.
"Wer nicht nuklear abschrecken kann, wird zum Spielball der Weltpolitik"
"Aber das reicht auf Dauer nicht", sagte Spahn. "Wir müssen über eine deutsche oder europäische Teilhabe am Atomwaffen-Arsenal Frankreichs und Großbritanniens reden, möglicherweise auch über eine eigene Teilhabe mit anderen europäischen Staaten. Das wird viel Geld kosten. Aber wer Schutz will, muss ihn eben auch finanzieren." Er fügte hinzu: "Wer nicht nuklear abschrecken kann, wird zum Spielball der Weltpolitik."
Es sei nicht davon auszugehen, dass eine Atommacht wie Frankreich anderen Bündnispartnern finalen Zugriff auf französische Nuklearwaffen gewähren werde, sagte Spahn. "Aber für eine europäische Atommacht gäbe es mehrere Ideen, auch wenn manche erstmal verkopft und theoretisch klingen." Als Beispiel nannte er, "dass die Zuständigkeit zwischen den Mitgliedsstaaten nach dem Zufallsprinzip rotiert - dann bleibt auch ein potenzieller Gegner im Ungewissen".
SPD: Spahn spielt mit dem Feuer
Kritische Stimmen kamen nicht nur aus der Opposition, sondern auch aus den Reihen des Regierungspartners SPD. Der SPD-Außenpolitiker Rolf Mützenich warf Spahn vor, mit dem Feuer zu spielen, "wenn er europäische, möglicherweise sogar deutsche Atomwaffen fordert". Die Vorstellung sei "geradezu Ausdruck eines abenteuerlichen, wichtigtuerischen Denkens", sagte er der "Süddeutschen Zeitung".
Die SPD bekenne sich klar zum Ziel der Nichtverbreitung von Kernwaffen, führte Mützenich aus. "Wenn eine verantwortliche Weltpolitik an den Besitz von Atomwaffen geknüpft ist, wie Spahn behauptet, wird die Internationale Ordnung endgültig zu einem Dschungel, in dem sich nur die Mächtigsten und bis an die Zähne bewaffneten Staaten behaupten könnten."
Kritik von Linken, Unterstützung von AfD
Spahns Vorstellung eines europäischen Atom-Schutzschirms unter deutscher Führung "grenzt an den bekannten Größenwahn in der deutschen Geschichte", erklärte Linken-Fraktionschef Sören Pellmann. "An solch unseligen Forderungen ist schon der damalige Verteidigungsminister Franz Josef Strauß gescheitert."
Unterstützender äußerte sich hingegen der verteidigungspolitische Sprecher der AfD-Fraktion, Rüdiger Lucassen. Die nukleare Teilhabe an amerikanischen Atomwaffen stehe in Frage, eine Beteiligung an französischen oder britischen werde es nicht geben. "Ein deutsches Atomwaffenprogramm ist daher die logische Konsequenz", sagte er der "Welt".
Die Grünen wiederum warfen Spahn vor, von den Vorwürfen wegen der Corona-Maskenbeschaffung in seiner Zeit als Gesundheitsminister ablenken zu wollen. "Jens Spahn macht Selbstverteidigungspolitik und nicht Verteidigungspolitik", sagte die sicherheitspolitische Sprecherin der Grünen, Sara Nanni, dem "Tagesspiegel".
Mit Informationen von AFP und dpa
Im Video: Atomwaffen - "Unberechenbarkeit gehört zur Abschreckung"
Atombombe: Rettung oder Untergang für die Menschheit? #Oppenheimer | Possoch klärt | BR24
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