Die Anrede "Majestät" mag er nicht. Er will, dass man ihn "Onkel Józsi" nennt: József Kada, die Figur im Zentrum von "Zsömle ist weg", dem neuen Buch des ungarischen Schriftstellers László Krasznahorkai. 91 Jahre alt ist er. Er wohnt auf der Höhe eines Berges, über einem Dorf mit schrulligen Bewohnern. Er liebt Kaffee und Wein, hat einen Hund namens Zsömle und seit Kriegstagen einen Granatsplitter im Kopf. Vor allem aber hält er sich für den rechtmäßigen Thronfolger Ungarns.
Miklós Horthy, der Reichsverweser, so erzählt Onkel Józsi, habe ihm, Spross der uralten adeligen Familie Árpád, 1944 die Krone aufs Haupt gesetzt. In mancher Hinsicht erinnert er an Baron Wenckheim, die Hauptfigur im vorvergangenen Roman von László Krasznahorkai. Auch der ein betagter blaublütiger Sonderling. "Diese Figuren, die leben in unserem Leben. Wir sind meistens blind, dass sie neben uns leben – obwohl sie uns nur Hoffnungen geben. Kleine Hoffnungen, dass nicht alles so unerträglich ist", sagt László Krasznahorkai.
Kafka gehört zu den Traditionslinien von László Krasznahorkai
Die Vorstellung, im hohen Alter und zu Beginn der 2010er-Jahre tatsächlich auf dem ungarischen Thron zu sitzen, findet Onkel Józsi sehr verlockend. Er wird beständig von Fans der Monarchie umlagert, die ihm eine glänzende Zeit als Jószef Kada I. der Árpáden voraussagen – und einem "Heiligen Ungarn" sowieso. Ein Staatsstreich wird geplant, der Alte (der übrigens auch den deutschen Reichsbürger-Möchtegern-Herrscher Heinrich XIII. Prinz Reuß kennt) ist dabei oft, wie es scheint, mehr Spielball und Marionette.
Als ihm etwa von seinen Verehrern ein geheimes Waffenlager präsentiert wird, distanziert er sich lautstark von einem Umsturz mit Gewalt und hofft lieber auf einen diplomatischen Weg zur Macht. László Krasznahorkai sagt gerne, er schreibe keine politischen Romane. Das gilt auch – trotz der politischen Dimension – für "Zsömle ist weg". "Ich konnte früher auch nicht über das Kadar-Regime oder das Horthy-Regime oder jetzt über das Orban-Regime schreiben", sagt Krasznahorkai. "Politische Regime kommen und gehen. Meine Aufgabe ist ganz anders: nicht über politische Regime zu schreiben. Sondern über den Menschen, über uns, über das Universum, über die Sterne, die nicht existieren."
Spiel mit der eigenen Biographie
Unbedingt erhellend ist ein kleiner gedanklicher Sprung von József Kada zu Franz Kafkas Josef K. – zur Erfahrung nämlich, in Umstände zu geraten, an denen man hilflos zugrunde geht. Kafka gehört zu den Traditionslinien, in denen sich László Krasznahorkais Werk verorten lässt. Und auch dieser neue Roman, bisweilen abgrundtief bitterböse und grotesk, wird in der für ihn so charakteristischen rhythmisch-elliptischen Prosa erzählt, in atemlosen und zugleich eindrücklichen Bewusstseinsströmen. Heike Flemming hat sie großartig übersetzt, bis hin zum Slang, etwa wenn seine Majestät von Komjutern spricht anstatt von Computern. "Was mir wichtig war, war die Komposition selbst – was ein Roman ist."
László Krasznahorkai spielt in dieser Komposition auch mit der eigenen Biographie. Zu den Verehrern des angeblichen Königs gehört ein verhuschter Sänger und Musiklehrer mit seinem Namen, er hält treu zu Onkel Józsi, auch als dieser aufgrund des versuchten Staatsstreichs vor Gericht gestellt wird und schließlich in der Psychiatrie landet. Oft möchte man, unterwegs in dieser schrägen Geschichte, laut loslachen. Und denkt zugleich beständig daran, dass sich in der Wirklichkeit tatsächlich eine Art Staatsstreich vollzogen hat, hin zu einer "illiberalen Demokratie". Das ist die traurige Pointe eines Romans, der so komisch daherkommt und dabei eine beklemmende Gegenwart mitten in Europa spiegelt.
"Zsömle ist weg": László Krasznahorkais neuer Roman erscheint am 10.12. bei S. Fischer, in der Übersetzung von Heike Flemming.
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