Es ist nicht klar, welche gesetzlichen Kassen zum 1. Juli den Beitragssatz erhöhen werden. Eines aber ist sicher: Damit setzt sich eine in der Geschichte der Krankenversicherung beispiellose Entwicklung fort. Die Finanzen vieler Kassen sind inzwischen so auf Kante genäht, dass sie ihre Haushalte nicht mehr in der Logik von Kalenderjahren aufstellen und abarbeiten. Schon zum April und Mai haben acht der insgesamt 94 gesetzlichen Kassen ihren Beitragssatz erhöht, zum Juli sollen sechs weitere Kassen folgen.
Auch eine Finanzspritze aus Steuergeldern, die Bundesgesundheitsministerin Nina Warken (CDU) auf den Weg bringen will, dürfte an den Problemen der Kassen nichts Grundlegendes ändern. Nach ihrem Willen sollen Kassen Aufwendungen für Bürgergeldempfänger vollständig vom Bund erstattet bekommen. Die entsprechende Lücke wird auf rund zehn Milliarden Euro beziffert. Insgesamt geben die Kassen dieses Jahr allerdings mehr als 340 Milliarden Euro aus.
Rätselraten über Anhebungen
Der GKV-Spitzenverband erklärt, er könne keine Angaben dazu machen, welches die sechs Kassen sind, die Anträge auf eine Beitragssatzanhebung zum Juli bei der jeweils zuständigen Aufsichtsbehörde gestellt haben. Von den acht Kassen, die im ersten Halbjahr den Beitragssatz angehoben haben, hatten vier schon kurz zuvor zum Jahreswechsel ihren Preis erhöht.
Alle Kassen, die in diesem Jahr zum außergewöhnlichen Schritt der unterjährigen Beitragserhöhung gegriffen haben, sind eher kleinere Versicherer aus den Kassenarten der BKKs und IKKs. Von großen Kassen aus dem Lager der AOKs und Ersatzkassen sind keine unterjährigen Anhebungen bekannt.
Unterjährige Erhöhungen als Alarmzeichen
Eigentlich soll die gesetzliche Krankenversicherung möglichst ohne Beitragssatzanhebungen auskommen. Die Zusatzeinnahmen, die die Kassen erzielen, wenn die Einkommen ihre Mitglieder steigen, sollen ausreichen, um zusätzliche Ausgaben zu decken. Weil die gesetzlichen Kassen einen prozentualen Beitragssatz vom Einkommen ihrer Mitglieder erheben, bringen ihnen Tariferhöhungen oder eine gute Entwicklung am Arbeitsmarkt zusätzliche Einnahmen.
Die entsprechende Rechengröße, die Grundlohnsumme, ist vergangenes Jahr nach Angaben des GKV-Spitzenverbandes um 4,22 Prozent gestiegen (externer Link). Allerdings sind die Ausgaben der GKV fast doppelt so schnell angewachsen, um 7,7 Prozent.
Historischer Beitragssprung zum Jahreswechsel
Immer im Herbst stellen die Kassen ihre Haushalte fürs Folgejahr auf, unter anderem rechnen sie dabei den erwarteten Anstieg der Grundlohnsumme mit ein. Wenn sie davon ausgehen, dass die Einnahmen nicht ausreichen, um die gesetzlich vorgeschriebenen Ausgaben zu decken, müssen sie ihren Beitragssatz anheben. In früheren Jahren waren Anhebungen von 0,2 oder 0,3 Prozentpunkten üblich. Zum vergangenen Jahreswechsel hatte die Bundesregierung einen Anstieg um im Schnitt 0,8 Prozentpunkte vorhergesagt. Tatsächlich stiegen die Beiträge um durchschnittlich 1,2 Prozentpunkte: ein nie dagewesener Beitragssatzsprung.
Leere Reserven sorgen für Finanznot
Nicht nur die Schere zwischen schnell steigenden Ausgaben und weniger schnell steigenden Einnahmen setzt die Kassen unter Druck. Auch das Abschmelzen der Finanzreserven wird zu einem immer größeren Problem. Noch im Jahr 2018 konnten die Kassen bis zu 1,5 Monatsausgaben als Rücklage vorhalten. Inzwischen hat die Bundesregierung diese Obergrenze auf 0,5 Monatsausgaben gesenkt. Tatsächlich aber sind die Rücklagen zuletzt auf rund 0,2 Monatsausgaben gesunken. Die Reserven der Kassen reichen also für weniger als eine Woche.
Nach Einschätzung der Münchner Gesundheitsökonomin Prof. Leonie Sundmacher haben verschiedene Bundesregierungen rund ein Jahrzehnt lang nur wenig unternommen, um die Ausgaben der Krankenversicherung zu dämpfen. Denn nach einer deutlichen Beitragssatzanhebung im Jahr 2015 sammelten sich zunächst üppige Reserven an. Vor diesem Hintergrund habe es viele Entscheidungen gegeben, die für zusätzliche Ausgaben sorgen, aber nur wenige Sparmaßnahmen. Inzwischen sei ein "Kipp-Punkt" erreicht.
Sonderkündigungsrecht bei Beitragserhöhung
Wer keinen höheren Beitrag zahlen will, kann zu einer günstigeren Krankenkasse wechseln. Eine Beitragssatzanhebung löst ein Sonderkündigungsrecht aus. Die Bindefrist von mindestens zwölf Monaten an die bisherige Kasse entfällt.
Verbraucherschützer (externer Link) weisen allerdings darauf hin, dass der Preis nicht das einzige Kriterium bei der Kassenwahl sein sollte. Auch bei Sonderleistungen oder dem Service gebe es Unterschiede, die die Versicherten berücksichtigen sollten. Zudem gab es immer wieder Berichte, dass besonders günstige Kassen, zu denen viele neue Mitglieder wechselten, Schwierigkeiten hatten, den Zustrom zu bewältigen.
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